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Wenn die Eltern ins Tiny House ziehen

date_range 10.10.2023

Was die richtige Wohnform im Alter ist, damit setzen sich viele Menschen spät auseinander. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, das eigene Haus gegen weniger Wohnraum einzutauschen? Eine Familie aus Aarau hat eine Lösung gefunden.

Die Töchter übernehmen das Elternhaus, die Eltern ziehen aus – so weit, so normal. Speziell ist im Fall der Familie Leitner, dass die Eltern nur ein paar Meter weiterziehen, in ein neues Tiny House auf dem gleichen Grundstück – und zwar deutlich vor dem Pensionsalter.

Das Ganze ist ein Herzensprojekt mit langer Vorgeschichte. Das wird im Gespräch mit der Aarauer Stadträtin Angelica Cavegn Leitner, ihrem Mann Daniel Leitner und den Töchtern Aline und Benita schnell klar. Im Jahr 1988 kaufte und renovierte die Familie die eine Haushälfte an der Dossenstrasse in Aarau, um später die zweite Haushälfte zu erwerben, die sie anschliessend als Bed & Breakfast betrieb. Im Jahr 2013 kam dann das Gästehaus an der Zelglistrasse dazu, wo das Ehepaar Leitner rund 20 Zimmer vermietet. «Da war der Zeitpunkt gekommen, mit den Kindern zu reden. Das Gästehaus und Angelicas politisches Engagement gaben so viel zu tun, dass wir nur selten zu Hause waren. So war das Haus einfach zu gross für uns», sagt Daniel Leitner.

Gute Ausgangslage für Übergabe

Zu diesem Zeitpunkt war das Paar Mitte 50. Es ist wohl eher ein ungewöhnlich früher Zeitpunkt, das Haus den Kindern zu übergeben. Bekannte und andere Aussenstehende waren denn auch sehr erstaunt. «Aber wir wollten unseren Töchtern ein eigenes Haus in Aarau ermöglichen», sagt Daniel Leitner. Anlässlich einer Wanderung mit den Töchtern kam das Thema dann zur Sprache und stiess auf offene Ohren. Die Ausgangslage hätte nicht besser sein können: Zwei Haushälften – zwei Töchter. Die beiden zogen im Jahr 2019 beziehungsweise 2020 mit ihren Partnern wieder in ihr Elternhaus. Und die Eltern ins moderne Tiny House im Garten. Dieses bietet 45 Quadratmeter Bruttogebäudefläche und 35,5 Quadratmeter Wohnfläche – aufgeteilt in Wohnzimmer, Schlafzimmer und Badezimmer.

Stauraum und Flexibilität

Wer von einem Einfamilienhaus in ein Tiny House zieht, muss sich gut überlegen, was alles mitkommen soll. Das Paar hat schon früh angefangen, auszusortieren. Schon damals, als es während der Bauphase des Tiny Houses ein Zimmer im Gästehaus bewohnte. Es wurde alles bis ins letzte Detail selbst geplant – die Raumaufteilung, die Möblierung, der Ausbau. Die Waschmaschine fungiert auch als Tumbler. Im Wohnzimmer steht an der Wand ein grosses Sideboard, das sich in ein Doppelbett verwandeln lässt. Wenn mal mehr Gäste zu Besuch da sind, lässt sich der Tisch verlängern. Alle Einbauschränke reichen bis zur Decke, um den Stauraum komplett auszureizen. Der Inhalt des Kleiderschranks ist gezwungenermassen übersichtlich.

Auch der Technikraum ist klein – er hat im Wandschrank des Badezimmers Platz. Denn das Ehepaar hat sich zum Heizen nicht etwa für die in Tiny Houses u?blichen Holzpellets entschieden, sondern holt sich die Wärme, den Strom und das Wasser bei Tochter Aline, die eine Wärmepumpe sowie eine PV-Anlage besitzt. Mit einem Zähler wird die separate Abrechnung gewährleistet. Auch nutzt die Familie Räume gemeinsam, wie den Werkraum, der sich in Benitas Haushälfte befindet, oder die Geräte im Gartenhäuschen.

Nachhaltigkeit grossgeschrieben

Ein Tiny House ist nicht per se nachhaltig, aber Familie Leitner hat daraus ihr ganz persönliches nachhaltiges Projekt gemacht: Bestandteil des Baugesuchs war der Nachweis energetischer Massnahmen, die das Ehepaar mithilfe einer gut gedämmten Gebäudehülle und einer Dreifachverglasung erreicht hat. Mit 1,4 Kilowatt entspricht die bisher maximal benötigte Heizleistung der Leistung eines mittelstarken Haarföhns. In den Wintermonaten 2022/2023 betrug der Heizenergieverbrauch weniger als 300 Kilowattstunden pro Monat. Die Nebenkosten für Heizung, Warmwasser, Abwasser und Strom belaufen sich über ein ganzes Jahr gesehen auf rund 100 Franken pro Monat.

Auch die Wahl des Holzbauunternehmens war kein Zufall: Es verwendet über 90 Prozent regionales Holz und das zuliefernde Sägewerk ist nur 50 Meter vom Werkplatz entfernt. Ein Betonfundament war kein Thema, es musste ein Punktfundament mit Erdschrauben her, das den Boden nicht belastet. So konnte eine grosse Menge an CO2 eingespart werden. Die extensive Begrünung des Flachdaches besteht aus einer Mischung aus Schweizer Kräutern, Wildblumen und Sedumsprossen, die insbesondere die hiesige Insektenwelt unterstützt. Für die Bewässerung der Pflanzen im Garten wird das Regenwasser vom Dach verwendet, das in einer Regentonne gesammelt wird. Das überschüssige Wasser fliesst ins Erdreich und wird nicht in die Kanalisation geleitet.

Privatsphäre ist wichtig

Es klingt nach dem perfekten generationenübergreifenden Zusammenleben. Und bei allen beteiligten Parteien fragt man vergebens nach Nachteilen, die diese Wohnkonstellation mit sich bringen könnte. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass alle ihre Privatsphäre und ihren Rückzugsort haben. «Um ein solches Projekt umsetzen zu können, muss eine Familie perfekt harmonieren und einen ehrlichen Umgang pflegen», so Benita.

Die Familie geniesst die vielen Vorteile. Benita sagt: «Wenn ich mal kurz einen Babysitter brauche, frage ich meine Eltern im Familienchat, ob sie Zeit haben, auf Luna zu schauen. Sie läuft dann allein zu ‹Tats› und ‹Tattas› Haustüre. Und Luna geniesst diesen Luxus, all ihre Liebsten in nächster Nähe zu haben.» Seit einem Monat wohnt der Labrador-Welpe Tibbers bei Aline und ihrem Lebenspartner. «So wie Luna kommt auch Tibbers in den Genuss, mit meinen Eltern Zeit zu verbringen, wenn wir mal weg müssen oder etwas vorhaben. Und umgekehrt sind wir natürlich auch immer gerne für sie da, wenn sie mal unsere Hilfe benötigen», sagt Aline. So macht Generationenwohnen Spass.

Einschätzung eines Experten zum «generationengemischten Wohnen» in der Schweiz

François Höpflinger, selbstständiger Alters- und Generationenforscher, zu den generationengemischten Wohnformen wie der von Familie Leitner:
«Generationengemischtes Wohnen wird heute von älteren Personen mehrheitlich positiv beurteilt. Allerdings geht es häufig weiterhin um ein gutes Nebeneinander als um ein enges Miteinander von jungen und älteren Menschen. Was familiales Generationenwohnen betrifft, gehört die Schweiz zu den Ländern, wo Dreigenerationenhaushalte sehr selten geworden sind. Häufiger als ein Zusammenleben von Generationen im gleichen Haushalt ist ein Zusammenleben im gleichen Haus. Das für die Schweiz dominante Modell des familialen Generationenwohnens ist das von ‹Intimität auf Abstand›: gute Kontakte in Wohnnähe, aber jede Generation verfügt über einen eigenen Haushalt bzw. Hausteil. Das Beispiel der Familie Leitner mit verschiedenen Wohneinheiten entspricht genau dem Modell von ‹Intimität auf Abstand› und ist eine gute Lösung, um dem Schweizer Klimaziel näherzukommen. Denn viele ältere Menschen in der Schweiz verfügen über klar mehr Wohnraum als jüngere Generationen. Eine Schätzung ergibt, dass um die 13 bis 14 Prozent des Schweizer Klimaziels allein durch eine generationengerechte Verteilung von Wohnraum erreicht werden könnten.

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Magazin des Bundesamts für Energie BFE, energeiaplus.com

Bild: unsplash.com


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